Frauen des arbeitenden Volkes!
Wo sind eure Männer? Wo sind eure Söhne?
Seit zwölf Monaten stehen sie draussen im Feld. Sie sind ihrer Arbeit, ihrem Heim entrissen: Jünglinge, die Stütze und Hoffnung ihrer Eltern; Männer in der Blüte ihrer Jahre; Männer mit ergrauendem Haar, die Ernährer ihrer Familien. Sie alle tragen den bunten Rock, hausen in den Schützengräben, sind kommandiert zu vernichten, was fleissige Arbeit geschaffen hat.
Millionen ruhen bereits in den Massengräbern. Hunderttausende und Aberhunderttausende liegen in den Lazaretten — mit zerfetzten Leibern, mit zerschmetterten Gliedern, mit erblindeten Augen und zerstörtem Hirn, gepackt von Seuchen oder niedergeworfen vor Erschöpfung.
Verbrannte Dörfer und Städte, zertrümmerte Brücken, vernichtete Wälder und zerwühlte Äcker sind die Spuren ihrer Taten.
Proletarierfrauen!
Man hat euch gesagt, eure Männer und Söhne seien hinausgezogen, euch, die schwachen Frauen, eure Kinder, euer Haus und euern Herd zu schützen.
Wie ist die Wirklichkeit?
Auf den Schultern der „schwachen“ Frauen ist doppelte Last gehäuft. Schutzlos seid ihr dem Kummer und der Not überantwortet. Eure Kinder hungern und frieren, das Dach über eurem Kopf droht man euch zu nehmen, euer Herd ist kalt und leer.
Man hat euch geredet von der einen grossen Brüder- und Schwesternschaft zwischen hoch und niedrig, von dem Burgfrieden zwischen arm und reich. Nun, der Burgfrieden zeigt sich darin, dass der Unternehmer eure Löhne drückt, der Händler und gewissenlose Spekulant die Preise steigert, der Hauswirt euch auf die Strasse zu setzen droht. Der Staat hat für euch karge Hand, die bürgerliche Wohltätigkeit kocht Bettelsuppen und empfiehlt euch zu sparen.
Was ist der Zweck des Krieges, der euch so furchtbare Leiden bringt? Man sagt: das Wohl, die Verteidigung des Vaterlandes. Was ist das Wohl des Vaterlandes? Sollte es nicht das Wohl vieler Millionen bedeuten, das Wohl der Millionen, die der Krieg zu Leichen, zu Krüppeln, zu Arbeitslosen, zu Bettlern, zu Witwen und zu Waisen macht?
Wer gefährdet das Wohl des Vaterlandes? Sind es die Männer, die jenseits der Grenze in anderer Uniform stecken, sie, die so wenig wie eure Männer den Krieg gewollt haben, noch wissen, weshalb sie ihre Brüder in anderen Waffenröcken morden sollen? Nein! Gefährdet ist das Vaterland durch alle, die aus der Not der breiten Massen Reichtum schöpfen und ihre Herrschaft auf der Unterdrückung aufbauen.
Wem nützt der Krieg?
Nur einer kleinen Minderheit in jeder Nation. Zunächst den Fabrikanten von Flinten und Kanonen, von Panzerplatten und Torpedobooten, den Werftbesitzern und den Lieferanten des Heeresbedarfs. Im Interesse ihres Profits haben sie den Hass unter den Völkern geschürt und so zum Ausbruch des Krieges beigetragen. Der Krieg nützt des Weiteren den Kapitalisten überhaupt. Hat nicht die Arbeit der enterbten und ausgebeuteten Massen Waren aufgehäuft, die jene nicht verbrauchen dürfen, die sie erzeugten? Sie sind ja arm, sie können nicht dafür zahlen! Arbeiterschweiss hat diese Waren geschaffen. Arbeiterblut soll ihnen neue Absatzmärkte im Auslande erkämpfen. Kolonialländer sollen erobert werden, wo die Kapitalisten die Schätze des Bodens rauben und billigste Arbeitskräfte ausbeuten können.
Nicht die Verteidigung des Vaterlandes, seine Vergrösserung ist der Zweck dieses Krieges. So will es die kapitalistische Ordnung, denn ohne die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen kann sie nicht bestehen.
Die Arbeiter haben durch diesen Krieg nichts zu gewinnen, wohl aber alles zu verlieren, was ihnen lieb und teuer ist.
Arbeiterfrauen, Arbeiterinnen!
Die Männer der kriegführenden Länder sind zum Schweigen gebracht worden. Der Krieg hat ihr Bewusstsein getrübt, ihren Willen gelähmt, ihr ganzes Wesen entstellt.
Aber ihr Frauen, die ihr neben der nagenden Sorge um eure Lieben im Felde daheim Not und Elend ertragt, worauf wartet ihr noch, um euern Willen zum Frieden, euern Protest gegen den Krieg zu erheben?
Was schreckt ihr zurück?
Bisher habt ihr für eure Lieben geduldet, nun gilt es, für eure Männer, für eure Söhne zu handeln!
Genug des Mordens!
Dieser Ruf erschallt in allen Sprachen. Millionen von proletarischen Frauen erheben ihn. Er findet Widerhall in den Schützengräben, wo das Gewissen der Volkssöhne sich gegen das Morden empört.
Frauen des werktätigen Volkes!
In diesen schweren Tagen haben sich Sozialistinnen aus Deutschland. England, Frankreich und Russland zusammengefunden. Eure Nöte, eure Leiden haben ihre Herzen bewegt. Um eurer Lieben Zukunft willen rufen sie euch zum Friedenswerk auf. Wie über die Schlachtfelder hinweg sich ihr Wille zusammenfand, so müsst auch ihr euch aus allen Ländern zusammenschliessen, um den einen Ruf zu erheben: Friede, Friede!
Der Weltkrieg hat euch das grösste Opfer auferlegt! Die Söhne, die ihr in Schmerz und Leid geboren, unter Müh und Sorgen erzogen, die Männer, die eure Gefährten im harten Lebenskämpfe sind, raubt er euch. Im Vergleich mit diesen Opfern sind alle andern klein und nichtig.
Die ganze Menschheit blickt auf euch, ihr Proletarierinnen der kriegführenden Länder. Ihr sollt die Heldinnen, ihr sollt die Erlöserinnen werden!
Vereinigt euch in einem Willen, in einer Tat!
Was eure Männer, eure Söhne noch nicht beteuern können, verkündet ihr es millionenfach: Das Volk der Arbeit aller Länder ist ein Volk von Brüdern. Nur der einige Wille dieses Volkes kann dem Morden Einhalt gebieten.
Der Sozialismus allein ist der künftige Menschheitsfriede.
Nieder mit dem Kapitalismus, der dem Reichtum und der Macht der Besitzenden Hekatomben von Menschen opfert!
Nieder mit dem Kriege! Durch zum Sozialismus!
Bern, im März 1915.
Die internationale sozialistische Frauenkonferenz, an der teilgenommen haben Genossinnen aus
Deutschland, Polen,
Frankreich, Italien,
England, Holland,
Russland, und der Schweiz
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